Spieldesign: Verbindung von alten und neuen Spielideen

Gemälde: Lucas von Leyden (1. Drittel des 16. Jhdts), „Die Schachpartie“
„Das Kurierspiel“ – Ein Schachbrett mit 12 x 8 Feldern?

Die wenigsten neuen Spiele entstehen aus dem Nichts, und viele der heutigen bekannten ‚kanonischen‘ Spiele sahen früher anders aus, wurden anders gespielt oder besaßen andere Rahmenerzählungen. Diese Entwicklung lässt sich im Kleinen auch beim Kinderspiel entdecken:

“Every game player is a potential game designer, and that means you.
When you were a kid, you probably started many a game of whiffle ball or Monopoly with a little negotiation over the rules. “If the ball gets stuck in a tree, it’s an out,” “Chance and Community Chest fines go into a pool, and whoever lands on Free Parking gets the money,” and so on. Kids don’t hesitate to change the rules of existing games to make them more enjoyable. The participatory nature of playing a game encourages us to think about, and sometimes modify, its rules that is, its design. (…) We’ve all played games that we thought could be improved by a few adjustments.”
– Rollings and Adams (2003): “Andrew Rollings and Ernest Adams on Game Design”, p.11

Wie bei anderen Medien auch gibt es im Spieldesign Genres, Tropen, Klischees; ständig wiederkehrende Narrationen – z.B. Krieg, Handel, Kreation, Auktion, Jagd, Aufbau, Fortschritt, Zuordnung etc. – und beliebte Regelelemente – z.B. Zufall, versteckte Information, abwechselnde Zugfolge, zwei Parteien etc.. Dabei geben die Regeln oder das physikalische Spielmaterial die eindeutige Spielmechanik vor, die die erlaubten Züge und das Spielziel definiert, während die narrativen Elemente Bedeutung und Motivation in die Spielhandlungen einbringen.
Die Veränderung einzelner Regelelemente – z.B. Karten zu ziehen und auszuspielen statt zu Würfeln bei “Mensch Ärgere dich nicht” oder das ‘blinde’ Spielen von “Tic-Tac-Toe” mit einem Spielmeister – ergibt bereits ein neues Spiel mit anderem Spielgefühl und anderer Aussage; kurz, es entsteht ein neues Medium, in dem gespielt werden kann (s. Marshall McLuhan).
Das selbe lässt sich beobachten, wenn narrative Elemente des Spiels geändert werden: Ein Computerspiel, bei dem man  gezielt eine Person töten muss, würde, je nachdem, ob man Terroristen oder Anti-Terror-Truppen spielt, ein anderes Spielgefühl hervorrufen („America’s Army“). Die erste Version von Risiko hatte z.B. als Mission noch „Erobern sie die Welt“, bis diese in das ‚ungefährlichere‘ „Befreien sie die Welt“ umgeformt wurde.
Und was passiert, wenn Beim „Cowboy und Indianer“-Spiel auf einmal kein Kind mehr die Cowboys spielen will?

In gewisser Weise ist diese Veränderung regulativer und narrativer Elemente die Fortsetzung des kreativen Spiels, das man als Kind ständig gespielt hat: Die Welt zu sehen als ein Spielfeld, bei dem die Regeln noch nicht so fest definiert sind, als dass man sie im Spiel nicht umdefinieren könnte.

“A high school teacher drew a dot on the blackboard and asked the class what it was. “A chalk dot on the blackboard,” was the only response. “I’m surprised at you,” the teacher said. “I did this exercise with a group of kindergartners and they thought of fifty different things it could be: an owl’s eye, a squashed bug, a cow’s head. They had their imaginations in high gear.” As Picasso put it, “Every child is an artist. The challenge is to remain an artist after you grow up.”“
– From the “Creative WhackPack”-Card “Think like a kid”

Wenn aus einem Baum ein Monster, aus einem Bürgersteig eine Schlucht mit kleinen Felsspitzen oder aus dem Mülleimer ein Basketballkorb wird – dann ist das selbe auch mit Skat, Monopoly, Scrabble, Flaschendrehen, World of Warcraft oder Trivial Pursuit möglich.

“A new card game starts in a small way, either as someone’s invention, or as a modification of an existing game.”
– Wikipedia (2011): “Card Game”

Das lässt sich, am Beispiel des ‚Kinderspiels‘ auch wissenschaftlich ausdrücken:

«Play can be recognized by the more or less large-scale change in the relation of equilibrium between the reality relation and the ego. One could thus say: if adaptive activity and thought produce an equilibrium between assimilation and accommodation, then play begins at the point at which assimilation begins to dominate accommodation. (…) Play is thus practically pure assimilation.»
– J. Piaget: Gesammelte Werke, Bd. 5: “Nachahmung, Spiel und Traum”, quoted in Claus Pias:”Action, Adventure, Desire”
[Anmerkung: Accomodation = Changing your impression from the world according to new experiences. Assimilation = Interpreting the world according to your experiences and attitudes.]

Literaturempfehlung mit weiteren Anregungen:

  • Kevan Davies et al, (2010), „The Board Game Remix Kit“, S.1-17
  • Brian Harris et al. (2010), „Libraries got Game. Aligned Learning Through Modern Boardgames“, S.3-10
  • Greg Costykian (1995), „I have no words and I must design“

Beispiele für Spielgenealogie – Inspiration und Neuschöpfung

Burgritter

Christian Tiggemann, „Burgritter“ (Brettspiel, Kinder)
http://www.fantasyguide.de/4300.0.html (Rezension Fantasyguide)
http://www.poeppelkiste.de/frame/frame.htm?/kinder/2007/burgritter/burgritter.htm (Rezension Pöppelkiste)
Nominiert zum Kinderspiel des Jahres 2007

Es gibt Ähnlichkeiten zum älteren Gemeinschaftspiel „Eierkran“: http://www.spielewiki.org/wiki/Eierkran

Waldschattenspiel

Walter Kraul, „Waldschattenspiel“ (Brettspiel, Kinder)
http://de.wikipedia.org/wiki/Waldschattenspiel

Es gibt – wenn auch sehr entfernte – Ähnlichkeiten zum späteren Brettspiel „Khet“:
http://boardgamegeek.com/boardgame/16991/khet-the-laser-game

Obelisk

Heinz Meister, „Obelisk“ (Lernspiel (Würfel, Bau), Variationen mit dem selben Spielmaterial)
http://www.spieletest.at/spiel.php?ID=1353

Dixit

Jean-Louis Roubira, „Dixit“ (Erzählspiel, Ratespiel)
http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/jung/spiel-das-jahres-2010-dixit-spielt-mit-bildern-und-gedanken-1996541.html (Rezension)
Spiel des Jahres 2010

„Der Spielekritiker Christwart Conrad sieht im Lexikonspiel den Urahn von Dixit und Urs Hostettlers Spiel Der wahre Walter gilt nach seiner Meinung als Ideengeber bei der Punktevergabe. Er schreibt abschließend: „Weniger die originelle Idee oder das besondere Spielprinzip, sondern ausschließlich die Bildgestaltung macht Dixit zu einem besonderen Spiel, dessen bezauberndem Charme alle diejenigen erliegen werden, die auf jeder Karte ein traumhaftes Kunstwerk erkennen.„“
– Aus dem Wikipedia-Eintrag zu „Dixit“ (18.11.2011)

Fake for Real

Koert van Mensvoort et al, „Fake for Real“ (Legespiel, Memory®-Variation)
http://www.fakeforreal.com/ (Online spielbare Version)

Tyrannen-Quartett

Jürgen Kittel et al. „Tyrannen-Quartett“
http://www.weltquartett.de/

Abgeordnetenquartett
(eigentlich: Abgeordneten-Stechen)

Spiegel-Online & Abgeordnetenwatch, „Abgeordnetenquartett“ (Online-Kartenspiel)
http://www.spiegel.de/flash/flash-24537.html

Das gibt es – natürlich – auch als „Diktatorenquartett“. Die Freiheit der Kunst scheint im Spiel aufzuhören:
http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/diktatorenquartett-hitler-sticht-1.1057455

Tiebranimes
(‚PädagogInnen-Quartett‘)

Wey-Han Tan, Kerstin Hemmerlich, „Tiebranimes“ (Ausdruckbares Kartenspiel)
http://blogs.epb.uni-hamburg.de/metagames/selfmade-games/

Wikirace

„Wikirace“ (Onlinespiel, Repurposing, public domain)
http://en.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Wikirace (Spielbeschreibung und Spiel)

“It was a little like that game where you have to go from sausage to Plato in five steps, by association of ideas. Let’s see: sausage, pig bristle, paintbrush, Mannerism, Idea, Plato. Easy. (…) There are always connections; you have only to want to find them.”
– Umberto Eco (1988), “Foucault’s Pendulum”, p.35

Es gibt Ähnlichkeiten zu „Es war einmal…“ oder meiner „Poeten-Patience

Das Namenlose Uni-Hamburg-Spiel
(‚Uni-Einsparungs-Mensch-Ärgere-Dich-Nicht‘)

Wey-Han Tan, „Das Namenlose Uni-Hamburg-Spiel“
http://blogs.epb.uni-hamburg.de/metagames/2011/09/24/das-namenlose-uni-hamburg-spiel/