Dieser Artikel von mir erschien gerade in Heil, Kolb und Meyer (Hg.) „shift.“, ein Reader – der erste – aus der Reihe „Kunst Pädagogik Partizipation.“, enstanden als gemeinschaftlich verfasstes Werk der TeilnehmerInnen des Bundeskongress der Kunstpädagogik 2010-2012.
Ich bin recht zufrieden mit dieser Version hier, während die lektorierte Version in der Printausgabe ein gutes Beispiel dafür ist, wie eine veränderte Interpunktion die Bedeutung einer Aussage verändern kann: „Komm wir essen Opa“.
Im lektorierten Buchartikel heisst es:
„Im Spiel kann – wie in Peter Bichsels «Ein Tisch ist ein Tisch» – eine Straße, ein reißender Fluss, die beste Freundin, ein menschenfressender Tiger oder das Internet ein Spielfeld sein.“
Grammatisch ist dieser Satz regelkonform, semantisch ist er sinnvoll interpretierbar. Er trägt bloß nicht mehr die Bedeutung, die ich in ihn hineingeschrieben habe, sondern die, die der Lektor dort hineinkorrigiert hat. Es steht dort nun nicht mehr:
„Im Spiel kann – wie in Peter Bichsels «Ein Tisch ist ein Tisch» – eine Straße ein reißender Fluss, die beste Freundin ein menschenfressender Tiger oder das Internet ein Spielfeld sein.“
(Siehe auch „punctuation“ als Konzept bei Gregory Bateson oder Paul Watzlawick)
#Spiel
«Ein Spiel zu spielen ist der freiwillige Versuch, unnötige Hindernisse zu überwinden.»
– Bernhard Suits (1978, 41; Übers.), «The Grasshopper: Games, Life and Utopia»
Spiele sind Möglichkeitsräume, in dieser Hinsicht ähneln sie Medien: Nach bestimmten technischen Regeln und kulturellen Konventionen erschaffen wir dort Inhalte in Form von Spielhandlungen, die latent im Spiel angelegt und eincodiert sind: Ein Läufer zieht quer über das Schachbrett, die Mutter und der Vater bestimmen über das Kind und die gegnerische Mannschaft steht zwischen uns und dem Tor. Wie genau wir mit diesen Fakten umgehen, ist im Spiel uns überlassen.
Trotz dieser scheinbaren Freiheit kann das Spiel zutiefst konservativ und affirmativ sein, denn mit gängigen Leitmotiven wie Wachstum, Konkurrenz oder Kampf übt es den geschickten Umgang mit den gegebenen kulturellen Metaphern. Gleichzeitig ist das Spiel, im Gegensatz zur Kultur, explizit und zugänglich in seinen Regeln und Deutungen, und seine auffällige Natur der «Andersartigkeit» fordert uns heraus, den Ursprung genau diesen Umstands selbst zu berühren. Aus diesem Grund kann das Spiel ebenfalls zutiefst kreativ und subversiv sein, denn es besteht immer die Möglichkeit, es selbst zum Spielmaterial zu machen und die möglichen Spielzüge als abhängig von ihren Rahmenbedingungen (→Cultural Hacking) zu begreifen. Eine erfolgreiche Übertragung dieser Erkenntnis auf sich selbst und auf die Alltagswelt als gestaltete, gestaltende und gestaltbare Artefakte ließe sich als ästhetische Bildung bezeichnen.
Um Spiele schaffen und in ihnen spielen zu können, ist so zu allererst eine alternative Betrachtungsweise der Wirklichkeit von Nöten, die Mensch, Raum und Material einer massiven Umdeutung zu unterziehen vermag. Neben seinen Verwandten, der →Kunst, dem Traum oder dem Wahnsinn, gehört Spiel damit zu den wenigen menschlichen Tätigkeiten, die trotz ihrer Anlage zur Subversivität eine gewisse kulturelle Narrenfreiheit genießen. Weil es die Möglichkeit zur →Partizipation bietet, ist es prinzipiell unter gemeinsam ausgehandelten Begrifflichkeiten fassbar und erscheint damit sicher, auch wenn es die Ordnung auf den Kopf zu stellen vermag: «Es ist ja nur im Spiel», heißt es, und eröffnet damit gleichzeitig einen der komplexesten kommunikativen Prozesse, zu denen der Mensch fähig ist.
Gregory Bateson (1985, 244) beschreibt das Spiel als die andauernde Verständigung über Handlungen, die nicht für das stehen, für das sie üblicherweise stehen: Im Spiel kann – wie in Peter Bichsels «Ein Tisch ist ein Tisch» – eine Straße ein reißender Fluss die beste Freundin ein menschenfressender Tiger oder das Internet ein Spielfeld sein. Mit dem nötigen Ernst umgesetzt, kann das Spiel so lustig und lustvoll werden (→Lust), weil disparate Dinge auf einmal →anschlussfähig, weil Fremdes zum Eigenen und Eigenes zum Fremden werden kann, ohne dass man, wie im Traum oder im Wahnsinn, zeitweise oder dauerhaft in dieser Deutung gefangen wäre.
Wenn Kultur die sichernden Grenzen zwischen menschlichem Freiheitsdrang und dem Verlangen nach Ordnung liefert, dann ist das Spiel der Ort, an dem beide zusammen treffen können. Das Spiel muss als begrenzendes Regelwerk und begründende Narration zuerst erschaffen und beständig aufrecht erhalten werden, damit man sich ihm aussetzen kann. Deshalb können wir aufhören zu spielen; und deshalb können wir auch immer wieder neu damit anfangen.
Quellen:
- Gregory Bateson (1985), „Eine Theorie des Spiels und der Phantasie.“ In Gregory Bateson, „Ökologie des Geistes: Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven.“ 241-261, Suhrkamp.
- Peter Bichsel (1995), „Ein Tisch ist ein Tisch: Eine Geschichte.“ Suhrkamp.
- Fabio Paglieri (2005), “Playing By and With the Rules: Norms and Morality in Play Development.“ In Topoi: An International Review on Philosophy. (2005) 24: 149–167, Springer.
- Jean Piaget (2009), „Nachahmung, Spiel und Traum: Die Entwicklung der Symbolfunktion beim Kinde“, 6. Aufl., Klett-Cotta.
- Friedrich Schiller (1879), “Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen.” In Friedrich Schiller, „Schillers Sämmtliche Werke, vierter Band.“ 558-634, J. G. Cotta’sche Buchhandlung.
http://gutenberg.spiegel.de/buch/3355/1 (20.3.2012) - Bernard H. Suits (1978), „The Grashopper: Games, Life and Utopia.“ University of Toronto Press.
- Brian Sutton-Smith (1977), „Dialektik des Spiels: Eine Theorie des Spielens, der Spiele und des Sports.“ Karl Hofmann.
Wey-Han Tan (2012), „#spiel.“ In Christine Heil, Gila Kolb und Torsten Meyer (Hg.), „shift. #Globalisierung #Medienkulturen #Aktuelle Kunst. Kunst Pädagogik Partizipation Buch 01.“ kopaed, 150-151,