Die Essenz des Spiels

Michael Straeubig erläuterte auf der Lüneburger Hyperkult am 8.7.2011 ein interessantes Konzept zum Spieldesign bzw. Spielverständnis. In seinem Vortrag „Essenz, Vereinfachung, Trivialisierung? Minimalisierung als Methode beschreibt er die Reduktion von Spielmechaniken auf das gerade noch notwendige Mindestmaß, um das Spiel vom Charakter her erkennbar und es selbst noch spielbar zu halten.

Muss, für eine Essenz z.B. des Puzzlespiels, ein Puzzleteil noch als Puzzleteil erkennbar sein (d.h. muss es Nut und Zapfen besitzen)? Muss bei Beendigung des Puzzles ein geschlossenes, glattes Rechteck herauskommen? Ist die Orientierung Oben-Unten-Rechts-Links-Hinten-Vorne bei den einzelnen Puzzleteilen unerheblich? Spielt die Haptik, d.h. das Erfassen der unregelmässigen Formen mit den Fingern und der Widerstand beim Einpassen eine essenzielle Rolle für das Puzzle-Spielerlebnis?

Puzzlevariationen – Welche ist ‚essenziell‘?
1.) Geschlossener Rahmen bei Wahlmöglichkeit mit Einpassung, 2.) Offener Rahmen bei Wahlmöglichkeit mit Einpassung, 3.) Wahlmöglichkeit nur über Rotationsorientierung.

  • Aus „Mensch Ärgere Dich nicht“ wird auf diese Weise ein Drei-Felder-Spielbrett mit einem binären Würfel (Essenz: randomisiertes Ziehen-Schlagen-Ziel erreichen);
  • aus einem Adventure-Spiel wird die korrekte Identifikation und korrekte Positionierung von Gegenständen (Essenz: Finden-Verlagern-Punkte einstreichen);
  • aus einem Puzzle wird ein drei-, zwei-, oder auch nur einteiliges Legespiel, je nachdem, ob man von multiplen Passungsmöglichkeiten, tatsächlicher physischer ‚Einpassung‘ oder lediglich einer ‚richtigen‘ Bild(re)generierung ausgeht.

Hier zeigt sich der Spielcharakter der Reduktionsmethode: Jeder Schritt der Reduktion ist seinerseits ein Spielzug in diesem relativ komplexen, sehr anregenden und spannenden Spiel, dessen Spielziel unscharf als „maximale Reduktion eines Spiels bis zu seiner Essenz“ genannt wird. Dabei wird zwangsläufig – wie in jedem Spiel – eine regelkonforme aber außerhalb des Regelsystems relativ willkürliche Entscheidung gefordert, was essentiell am Spiel ist und was nicht.

Wie an den Fragen aus dem Publikum heraus deutlich wurde, fordert Sträubigs Vorschlag geradezu dazu heraus, den Begriff der Essenz sowie der Reduktion genauer unter die Lupe zu nehmen, sich zu fragen: Gäbe es noch andere „Spielzüge“ oder „Strategien“, die zu einem ganz anderen ‚essenziellen‘ Ergebnis kommen?
Die Reduktion bzw. Essenzialisierung, wie sie z.B. Saint-Exupéry anspricht, besitzt nur scheinbar eine verführerische Zwangsläufigkeit, genauso wie eine bestimmte Zeichnung ausschließlich eine Schlange sein kann, die einen Elefanten verschlungen hat.

„Il semble que la perfection soit atteinte non quand il n’y a plus rien à ajouter, mais quand il n’y a plus rien à retrancher.“
(Vollkommenheit entsteht offensichtlich nicht dann, wenn man nichts mehr hinzuzufügen hat, sondern wenn man nichts mehr wegnehmen kann.)
– Antoine de Saint-Exupéry

In diesem Fall stelle ich Exupérys Zitat eines von Marvin Minsky entgegen:

„A thing with just one meaning has scarcely any meaning at all.“
– Marvin Minsky (1985): „Society of Mind“

Im folgenden Schritt, dem des Designs, würde dann ein Wiederaufbau – d.h. das Zufügen von Ornamentik und Opulenz in Form von narrativen Elemente, Gestaltung, Ausdifferenzierung – erfolgen und ein neues Spiel hervorbringen. Der Wiederaufbau entfernt sich offensichtlich von dem Platonischen Pfad der Essenz und erlaubt es dem Spieldesigner dem Spiel (seine) Nuance, Persönlichkeit und Weltlichkeit zu geben.

Spiel-Analyse-Synthese als Metapher und Methode

Diese Form der Analyse-Synthese finde ich äußerst spannend: Die Reduktion eines Stoffes bis zum Erreichen einer bestimmten Auflösung und die folgende Schaffung eines neuen Spiels aus den Artikulationen, den Gelenken (Regis Débray) des ‚puren‘ Mediums im Zusammenspiel mit den persönlichen Gedanken, Erinnerungen, Spielelementen des Designers.

Diese Methode lässt sich schöpferisch-ästhetisch auf jedes regelbasierte System und jedes Medium anwenden: Kultur, Sprache, Politik – und natürlich auch auf sich selbst. Jedes mal lässt sich als scheinbar einfache Regel bzw. Spielziel setzen: Reduziere das Phänomen bis zu seiner Essenz – und baue dann etwas neues, eigenes darauf auf.

Das so umfangreiche wie kurzweilige TV-Tropes-Wiki erläutert dies als pragmatische Vorgehensweise bei der Schaffung von SF-Szenarios als „Planet der Hüte“-Trope, wo die ‚Essenz‘ einer ganzen Rasse innerhalb von Minuten vom Zuschauer erfassbar ist bzw. sein muss:

„In an example of The Coconut Effect, the concept of the Planet of Hats has become so ingrained into popular culture that whenever an alien race is portrayed as not being uniform, identical, and homogeneous it typically results in complaints.“
http://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/PlanetOfHats
(12.7.2011)

Interessant ist es, die Reduktion-(Re)Generation als eine didaktische Methode zu betrachten. Ähnlich wie Spieldesign als das scheinbar generative ‚Gegenstück‘ zur Reduktion unterliegen beide Verfahren einer subjektiven Vorauswahl, was und wie reduziert bzw. generiert wird bzw. wann der gewünschte Zielzustand erreicht ist.
Was beim Spieldesign auf der Hand liegt, ist bei der Reduktion schwieriger zu erkennen: Es gibt keine Zwangsläufigkeit eines bestimmten reduzierten Ergebnisses, es sei denn durch den Determinismus der gewählten bzw. geschaffenen Reduktionsmethodik.

In einer Unterrichtseinheit bzw. Seminarsitzung durchgespielt könnte dies heissen:

  • Vorstellung der „Spielregeln“ der Reduktion
  • eventuell Vorstellung mehrerer Beispiele bzw. gemeinsames Erarbeiten anhand eines Beispiels
  • Reduktion eines – scheinbar – einfachen Spiels in Kleingruppen, wobei jeweils zwei Gruppen (größeres Seminar) oder alle Gruppen das selbe Spiel bearbeiten.
  • Besprechung der Ergebnisse, Hinweis auf die (notwendige) Unschärfe der Methode, auf Exklusions-und-Inklusionsmechanismen.
  • Anwendung der Methode auf andere mediale Formen (Genres „Boy meets Girl“) sowie soziokulturelle Phänomene

Ziel: Vorstellung und Diskussion radikal konstruktivistischer Ideen; gleichzeitig Einführung in eine Methode zum Spieldesign

Ich kann mir da eine sehr lustige, sehr angeregte und anregende Diskussion vorstellen.

Literaturhinweis für die entsprechende Sitzung:

Foerster, Heinz von: Ethics and Second-order Cybernetics. In: SEHR, volume 4, issue 2: Constructions of the Mind. Updated 4 June 1995 (section „Metaphysics“)
http://www.stanford.edu/group/SHR/4-2/text/foerster.html

Skinning

Sträubigs Reduktionsmethode ist weiterhin eine gute Ergänzung zum „Skinning“, mit der ich bisher kritisches Spieldesign erklärt habe. Es funktioniert ähnlich wie die Reduktion, allerdings nur auf der Ebene der narrativen Elemente: Entkleidet man ein Spiel von seinen Erzählungen („Du bist der Präsident einer Bananenrepublik…“), von seinen Metaphern („Krieg“, „Handel“, „Territorium“) und – soweit möglich – von seinen zu Assoziationen anregenden visuellen Elementen und regelgeleitetem Verhalten („Springer“, „Rennbahn“, „Verfolger“), dann erhält man die blanke, mit anderen Narrationen befüllbare Spielmechanik.

Aufbauend auf dieser Abstraktion des Spiels lassen sich dann neue Kontexte hinzufügen, so dass aus dem mathematisch-spieltheoretischen „Gefangenendilemma“ eine Kapitalismuskritik, aus „Counter-Strike“ eine jugendfreie Tortenschlacht oder aus „Moorhuhn“ vielfältige politische Kommentare werden können (s.o. „Moorhuhn“, „Border Patrol“, „Bush Shoot Out“, Spielmechanik).

Weitere Ideen

Eine weitere interessante Idee aus dem Lüneburger Publikum: Die Umkehrung der Reduktion würde eine überbordende Ausgestaltung sein, bei der das Spiel unter einer barocken Last an Komplexität und inherenter Mannigfaltigkeit schließlich verschwinden würde.
Auch dies würde zum Verständnis beitragen, was ein Spiel in seiner Spielbarkeit ausmacht; es wäre eine rauschhafte, schöpfungstaumelnde Illinx-Variation im Gegensatz zur sorgfältigen Methode der „Akkretion und Tuning“, d.h. dem schrittweisen Hinzufügen und Austarieren von Elementen, bis ein (noch) spielbares Optimum erreicht ist.