Neue Medien (er)spielen!

„Der sinnliche Trieb will bestimmt werden, er will sein Objekt empfangen; der Formtrieb will selbst bestimmen, er will sein Objekt hervorbringen; der Spieltrieb wird also bestrebt sein, so zu empfangen, wie er selbst hervorgebracht hätte, und so hervorzubringen, wie der Sinn zu empfangen trachtet.“

– Friedrich Schiller (1795): „Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen.“

Medien bestimmen, wie wir uns ausdrücken und was wir als Mitteilung erkennen können. Gleichzeitig sind Medien selbst Artefakte und Gegenstand von Veränderung. Ob die Form einer Vorlesung, eines Computerspiels oder eines Sammelbands: Das, was erwartet, gesagt und verstanden werden kann, ist gleichermaßen Bedingung und Ergebnis des Mediums. Würde ein Radio z.B. neben der Funktion als Empfänger noch zum Sendeapparat für Jedermann werden, wie Brecht es sich 1932 vorstellte, würde die Verschiebung der Grenzen des bestehenden technischen Mediums und seiner Sendeformate eine Neudefinition nötig machen: Es wäre kein Radio mehr.

Wenn man sich hingegen in beliebig viele personalisierte Mailinglisten eintragen kann und die dortigen Mails auf maximal 140 Zeichen beschränkt werden, dann ‘mailt’ man zwar nicht mehr, befindet sich mit Twitter aber immer noch in einer Form des vernetzten, digitalen Mediums.

Das „neue“ Medium kann im Vergleich zu „klassischen“ Medien seine Regeln und Grenzen auf dieselbe Art und Weise codieren wie seine Inhalte. Ein virtuelles Blatt Papier mit gedruckter Information kann so z.B. im Computer hunderte von Quadratmetern groß sein; die Abschnitte können nichtlinear aufeinander verweisen; ihre Position zueinander verändern; vom Leser ergänzt oder erneut publiziert werden. Auch eine Landkarte, bibliografische Fußnoten, ein Zettelkasten oder ein schwarzes Brett können dies leisten, aber das „neue“ Medium kann Eigenschaften dieser „klassischen“ Medien simulieren und darüber zusammenführen, erweitern oder unterbinden. Webseiten, elektronische Präsentationen oder Tweets sind zwar „neue“ Medien, aber gleichzeitig selbst Formen im neuen Medium. Dieses kann deshalb so dynamisch, schnelllebig und emergent sein, weil hier „Medialität (…) zur Form in einem Medium“ (Meder 2008, 47) werden kann, weil es einen „Raum, Räume zu schaffen“ (Sesink 2008, 15) darstellt. „Always Beta“ bzw. das „Prinzip Baustelle“, beides inoffizielle Leitfiguren des *mms und des Projekts ePUSH (z.B. Appelt 2008), stehen so nicht nur für einen geforderten offenen Umgang mit „neuen“ Medien seitens der Nutzer, sondern auch für das mediale Charakteristikum, das diese Art des Umgangs erforderlich macht.

Mit der aktuellen Idee eines Metamediums als dominierendes Verbreitungsmedium (Baecker 2007, 7), in dem beliebige neue Medien in potentia möglich sind, stellt sich die medienpädagogische bzw. bildungstheoretische Frage, wie man sich dieser Seite der Medialität annähern kann. Mailen, Bloggen oder ein Social-Network-Profil inhaltlich zu gestalten ‚lernt‘ man üblicherweise, in dem man sich den Gegebenheiten des und den allgemeinen Erwartungen an das Medium unterwirft. Das ‚Erfinden‘ neuer analoger und digitaler Medien bzw. medialer Formate scheint dagegen Avantgarde-Künstlern und Startup-Unternehmen vorbehalten zu sein.

Erleichtern lässt sich diese Aufgabe, wenn wir neue Medien mit Regelspielen und Mediendesigner mit Spielerfindern vergleichen: Wenn wir die Züge und Entscheidungen in einem Spiel als regelkonformen, expressiven und kreativen Kommunikationsprozess zwischen den Spielern ansehen, dann stellt die Summe aus Spielregeln und -material ein Mikromedium im Medium Spiel dar. Eingabegeräte, Internetanwendungen und vernetzte Gemeinschaften können so durch technische oder konzeptuelle Umdeutung zu Spielmaterial, Spielfeld und Spielfiguren, werden, während das Erstellen von und Reagieren auf Informationen das Wesen von Spielzügen annimmt: Das Spielen von Counterstrike, Fußball oder einem Quiz wäre vergleichbar mit der Nutzung von Twitter, Kommunikation in sozialen Netzwerken oder der Teilnahme an einem E-Learning-Modul.

Spiel und Spielen teilen weitere Eigenschaften mit dem digitalen Medium: Es können beliebige technische und inhaltliche mediale Formen integriert werden; Interaktivität, Dialogizität und Prozesshaftigkeit sind bezeichnend für den Umgang; und emergentes, grenzüberschreitendes Verhalten wird unterstützt, wenn nicht herausgefordert.

Pädagogenkarten von „Tiebranimes“ und der Spielplan des „Ultimate University of Hamburg Game“: Dies sind Reinterpretationen des Mediums „Universitätsstudium“ in unterschiedlichen Spielansätzen. Geht es um Konkurrenz oder Kollaboration, um Geschwindigkeit oder Iteration, um Fragen richtig beantworten zu können oder Geschichten neu zu erfinden?

Bildquelle des Speilplans: Kathrin Joswig, Maya Möhlmann, Esther Schieblon, Salla Puustinen: „The Ultimate University of Hamburg Game.“ Conceptual draft, seminar „Games, Play and Education“, 2009

Eine Veränderung der Spielregeln – dies umfasst auch die Bedeutung dessen, was man tut und warum man es tut – kann als eine Veränderung zweiter Ordnung betrachtet werden, in diesem Fall die Erstellung eines neuen Spiels bzw. eines neuen Mediums. Exemplarisch lässt sich dies – sowohl ludisch als auch medial – darstellen an MMOGs wie „Nethernet“, Alternate Reality Games wie „World Without Oil“ oder dem umfangreichen Archiv von „TV-Tropes“.

„Nethernet“ (Hall et al. 2007) deutet den alltäglichen monologischen Akt des Surfens und Recherchierens zu einer Sequenz dialogischer Spielzüge um, die auf das gesamte WWW als potenzielles Spielfeld mit allen Webseiten als umkämpfte Ressourcen zugreift; „World Without Oil“ (Eklund et al. 2007) lässt Spieler vor dem Hintergrund einer fiktiven Ölkrise ihre Spielzüge als sich aufeinander beziehende Äußerungen, Publikationen und mediale Einspeisungen in Form von Blogs, Forumsbeiträgen, Youtube-Filmen etc. vornehmen. Das digital-vernetzte Medium dient bei Spielen wie „Nethernet“ oder „World Without Oil“ als Illusionsmaschine, als eine frei gestaltbare Bühne, bei der Requisiten und Dramaturgie der Informationshandhabung beliebig umgedeutet werden können – genauso, wie beide Spiele ihrerseits bereits Abwandlungen bzw. Erweiterungen bestehender analoger und digitaler Spieltypen darstellen. Neben der Generierung von Gemeinschaften und Inszenierungen zu einem bestimmten Thema können diese für das Spiel erschlossene Räume Ausgangspunkt für Medienautoren sein und umgekehrt.

Demgegenüber versucht sich das von Nutzern ständig erweiterte „TV-Tropes“-Wiki (TV-Tropes 2004-2010) dokumentarisch an einer Sammlung und Genealogie sämtlicher konzeptuell-inhaltlicher Tropen von TV-Serien, Film und Computerspielen. Es ist ein Bottom-Up Versuch, den Möglichkeitsraum für inhaltliche Kreation und Rezeption dieser Formate vollständig abzubilden: Es ist u.a. ein Katalog mit ‚Spielmaterial’ für potenzielle Autoren und Hinweisgeber auf die Funktionsweise, d.h. auf die Spielregeln von Unterhaltungsmedien.

Im Vergleich zur ‚ernsten’ Simulation als metamediale Ausprägung des Digitalen besitzt das Spiel sowohl Einschränkungen als auch Freiheiten: Abbildungstreue und damit auch die Übertragbarkeit von simulierten Objekten, Prozessen und Systemen ins Reale ist im Spiel optional, während ihm anarchistische Tendenzen von Zerstörung, Ablehnung, Umdeutung und Kreation zu eigen sind: Es geht beim Spielen nicht oder zumindest nicht nur um das Finden des besten oder sinnvollsten Wegs, sondern um das lustvolle Erfassen des Terrains, des Möglichkeitsraums, in dem man sich mit jedem konkreten Spiel bewegt. Unsinn und Verwerfungen, Umwege und Scheitern gehören zum Spiel genauso wie strategisch sinnvolles und zielgerichtetes Handeln.

„Kids don’t hesitate to change the rules of existing games to make them more enjoyable. The participatory nature of playing a game encourages us to think about, and sometimes modify its rules, that is its design. (…) We’ve all played games that we thought could be improved by a few adjustments.“

– Rollings, Andrew, und Ernest Adams: „Andrew Rollings and Ernest Adams on Game Design.“ New Riders Publishing 2003, p.11

Ein spielerischer Umgang mit Medien – inhaltlich, konzeptuell als auch mit medialen Grenzen und Erwartungen – könnte im größeren Rahmen das fördern, was als “adaptives Verhaltenspotenzial” eine Grundbedingung für eine mit ständiger sozio-technischer Veränderung konfrontierten Gesellschaft (Sutton-Smith 1978, 82) darstellt; es könnte weiterhin einen besonders geeigneten Mittler zwischen Veränderung und Identität zur Verfügung stellen.

Im Vergleich zu den analogen mögen die digitalen Medien und ihre Spiele technisch hermetisch erscheinen, ihre Konzepte sind jedoch genauso offen für Hausregeln wie Kartenspiele: “A new card game starts in a small way, either as someone’s invention, or as a modification of an existing game” (Wikipedia “Card Games”, 29.09.2010).

In dieser Hinsicht ist ePUSH, sind die meisten Projekte im Bereich „e“ als Versuche zu werten, neue, interessante Spiele mit sinnvollen Spielzielen zu entwerfen. Die Frage, die sich für die Zukunft stellen wird, ist aber diese: Wie ermöglicht und erleichtert man es den Mediennutzern zur nächsten Generation von Medienerfindern zu werden?

*mms-Poker: Aspekte der ePUSH-Projektarbeit lassen sich – augenzwinkernd – zwischen Chaos und Sachzwängen ansiedeln.

Die Dreieinigkeit von Spiel- und Mediumdesign: Abtrennen und Dekontextualisieren; Experimentieren, Kombinieren und Modifizieren; Reglementieren und (Mit-)Teilen.

Der Interpretations- und Handlungsraum eines Spiels entsteht aus Regeln für das „wie“ und das „ob“ sowie Erzählungen für das „warum“. Der Austausch von Information und Intention wird innerhalb dieses Raums als eine Reihe von auf einander bezogenen Spielzügen erkennbar und sinnvoll.

Spielmaterial, Spielregeln – und Macht

Wenn Informationen und Information über Informationen zum Spielmaterial werden – was sind dann die Spielregeln? Und wer bestimmt sie?

Literatur

  • Appelt, Ralf (2010): Always Beta – Prinzip Baustelle. Blogbeitrag vom 3.11.2008 im Blog des *mms der Fakultät EPB, s. unter
    http://blogs.epb.uni-hamburg.de/mms/2008/11/03/always-beta-prinzip-baustelle/ (12.11.2010)
  • Baecker, Dirk (2007): Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
  • Eklund, Ken; Jane McGonigal, Dee Cook, Marie Lamb, Michelle Senderhauf und Krystyn Wells (2007): World Without Oil. Free online multiplayer educational game, Independent Lens. http://www.worldwithoutoil.org/ (8.10.2010).
  • Hall, Justin; Duncan Gough und Merci Victoria Grace (2007-2009): Nethernet. Free networked online massive multiplayer game, 2007 bekannt als Passively Multiplayer Online Game PMOG. http://thenethernet.com/ (14.8.2010)
  • Meder, Norbert (2008): Die Luhmannsche Systemtheorie und der Medienbegriff. In Fromme, Johannes, und Werner Sesink (Hrsg.): Pädagogische Medientheorie. Wiesbaden: VS Verlag, 37-49
  • Sesink, Werner (2008): Bildungstheorie und Medienpädagogik. Versuch eines Brückenschlags. In Fromme, Johannes, und Werner Sesink (Hrsg.): Pädagogische Medientheorie. Wiesbaden: VS Verlag, 13-35
  • Schiller, Friedrich (1795): Über die Ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen. Vierzehnter Brief. In Friedrich Schiller (1879): Sämmtliche Werke, vierter Band. Stuttgart: J.G. Cotta’sche Buchhandlung, 558-573
    http://gutenberg.spiegel.de/?id=5&xid=2397&kapitel=1#gb_found (8.10.2010)
  • Sutton-Smith, Brian (1978): Die Dialektik des Spiels. Schorndorf: Verlag Karl Hofmann
  • TV Tropes – Television Tropes and Idioms. Wiki, 2004-2010 http://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/HomePage (8.10.2010)
  • Wikipedia: Card game. Wiki, 2001-2010
    http://en.wikipedia.org/wiki/Card_game (29.9.2010)

Mit Erweiterungen aus: Torsten Meyer, Wey-Han Tan, Christina Schwalbe, Ralf Appelt: „Medien & Bildung. Institutionelle Kontexte und kultureller Wandel.“ VS Verlag 2011. S. 432-437