Narrativer Wissenstransfer

Die Erzählung ist vermutlich eine der ältesten Methodiken der Organisation und eines der ältesten Medien der Weitergabe von Wissen. Grundvoraussetzung ist ihre kulturelle Einbettung in die Verstehenswelt des Zuhörers oder Lesers während das mögliche Ziel gleichzeitig auch die Umkehrung in Form der Enkulturation sein kann.
Geschichten sollen entführen – und heimführen.

Implizites Wissen ist eingebettet in eine Dramaturgie, die sowohl minimalistisch die Form einer Anekdote oder eines Witzes annehmen, kontinuierlich rhythmische Wechsel von Spannung und Entspannung nutzen als als auch gewaltige epische Bögen umspannen kann.

Der Einsatz von Metaphern eröffnet eine vielschichtige Interpretierbarkeit und damit einen beständigen Zugang sowohl innerhalb eines sich verändernden, reifenden Individuums als auch einer sich wandelnden Gesellschaft.
(Religionen, sofern sie sich auf stiftende Erzählungen gründen, basieren auf diesen flexiblen Ansatz der Interpretierbarkeit – allenfalls eine erstarrte Gesellschaft kommt bei einer festgeschriebenen Erzählung stets zur selben Interpretation ihres Gründungstextes)

Wiedererkennbare Symbole, archetypische Protagonisten, bekannte Objekte, räumlich, zeitlich, gesellschaftlich oder moralisch einordbare Szenarien sorgen einerseits für eine kognitive Rahmung, ein Gefühl der Vertrautheit, können andererseits aber auch Ausgangspunkt für eine tiefergehende Reflektion und Introspektion sein, wenn sie in Form einer Wendung ihre angenommene Funktion oder Bedeutung ändern.

Eines der besten Kennzeichen einer ‚funktionierenden‘ Geschichte ist der wahrgenommene Nacherzählungs-Wert, d.h. ihre Erhebung in ein narrativ übermitteltes Mem.
Dadurch, dass sie in ihrer einfachsten Form nur die natürliche Sprache oder Schrift zur Übermittlung braucht, eignet sie sich als ‚virales‘ Mittel sowohl zur Archivierung als auch zum Transfer von Wissen – zumindest von impliziten Wissen, da die dynamische Form der Übertragung zu Verzerrungen und Variationen der ursprünglichen Geschichte führen kann.

Erzählungen haben allerdings den Nachteil, dass sie linear aufgebaut sind, was den dramaturgischen Aufbau zwar unterstützt, sie aber auch unflexibel macht und auf passive interpretation seitens des Hörers oder Lesers ausrichtet.
Durch ihre kulturelle Einbettung bzw. unzugängliche Symboliken sorgt sie überdies für einen Ausschluß eines bestimmten Publikums, welches sie z.B. als kindisch, künstlich, zu durchgeistigt, zu flach, zu albern oder gar unverständlich abtun kann.

Eine Erweiterung der linearen Erzähltechnik ist die explizite (durch gestellte Fragen, Rätsel, Probleme) oder implizite (durch Beobachtung der Reaktionen wie Spannung, Langeweile, Furcht etc.) Einbeziehung des Zuhörers oder Lesers, welche sich auf den Verlauf und Ausgang der Erzählung auswirkt. Diese Technik guter Erzähler findet sich anfangs der 1970er im interaktiven Erzählspiel (Rollenspiel) wieder, später im fiktionalen Hypertext von Computer-Adventures.

Der Unterschied zum ’normalen‘ Hypertext, wie er z.B. Vannevar Bush vorschwebte, liegt weniger im Inhalt oder der Art der Verknüpfung von Entscheidungsknoten, vielmehr im – durch die Nichtlinearität und prinzipieller Offenheit des Mediums schwierigen – Einsatz der klassischen Mittel der Erzählung, nämlich Dramaturgie, Einsatz von Metaphern, Aufbau einer sich selbst referenzierenden Symbolwelt.

„Das Universum ist aus Geschichten gemacht, nicht aus Atomen.“
Muriel Rukeyser