Funktionen des Spiels: Ideologisierung, Training, Bewältigung, Resilienz

Betrachtet man einige Theorien über die Funktion des Spiels, dann ergibt sich stark vereinfacht u.a. folgendes:

  • Brian Sutton-Smith (1978): “Die Dialektik des Spiels” (S.65-102)
    Spiel sorgt u.a. für eine Umkehrung und damit Verständnis von Machtbeziehungen, ebenfalls für ein Verständnis komplexer Beziehungen über Abstraktion und Variation und bereitet über eine Erweiterung des adaptiven Verhaltenspotenzials auf gegenwärtig gegebene Erfordernisse als prinzipiell auch auf zukünftige, unvorhersehbare Veränderungen der Umwelt vor.
  • Rolf Oerter (1993): “Psychologie des Spiels”, S.211 ff.
    Adaptive Funktion, Realitätsbewältigung durch Austausch, Aneignung, Bewältigung, Protest; Spiel entwickelt und bereitet auf zukünftige erwartbare Probleme vor.
  • Jean Piaget in Rolf Oerter (1993): “Psychologie des Spiels” , S.178 f.
    Beim Symbolspiel ist Spiel “überbordende Assimilation”, d.h. der Spieler ‘eignet sich die Welt an’, formt sie in ihrer Bedeutung so um, dass sie seinem Ich unterwerfbar wird; es ist eine Verteidigung gegen die erzwungene Akkomodation der Erwachsenenwelt.

Kurz zusammen gefasst geht es u.a. um dem Umgang mit dem Gegebenen (der Kultur und ihren Anforderungen an das Individuum), dem Gewünschten (dem individuell Defizitären) und dem Potenziellen (dem kulturell Defizitären); es geht damit auch um die Funktion von Spielen als kulturelle Serious Games.

Die Einsicht, die sich bei Marc Prensky in Bezug auf die nützliche Verbindung von konkurrenzbasierten (Lern)Spielen zu Krieg und Marktwirtschaft findet, ist durchaus berechtigt – wenn auch, wie die weiteren Zitate zeigen werden, in wesentlich erweiterter Form.

„[…] since war is a highly competitive situation, with rules (or at least constraints), goals, winners and losers, competitive games are a great way to train. In the words of one former officer: ‚You play these games as a kid, you grow up understanding the risks and rewards of making decisions in real life.’ “
Marc Prensky (2001), „True Believers“, S.5 f.

Das  ist auch einer der Gründe, warum die US-Armee „America’s Army“ nicht nur als Rekrutierungswerkzeug nutzt, sondern auch für Ideologisierung und Training. Es geht nicht nur um das „wie“, sondern auch um das „warum“, generell die Einbettung in einen soziokulturellen Kontext. Das Spiel wurde vom Entertainment Software Rating Board für Kinder ab 13 Jahren freigegeben und wird von der US-Armee dezidiert für diese Altersgruppe empfohlen.

„In elementary school kids learn about the actions of the Continental Army that won our freedoms under George Washington and the Army’s role in ending Hitler’s oppression. Today they need to know that the Army is engaged around the world to defeat terrorist forces bent on the destruction of America and our freedoms.“
– United States Army (2003-2004), Website „America’s Army“, „Windows FAQ – Parent’s Info“ (accessed 2007; siehe ebenfalls Source Watch)

Dass es bei dieser Art von (Lern)Spielen gerade auch um eine Vermittlung kultureller Normen und Werte geht, wird auch bei kommerziellen Produzenten sichtbar:

„In (…) World War II games, where is the liberation of the concentration camps? I am looking for the motivation rather than just shooting a bunch of human figures.“
– David Franzoni, Screenwriter, on the DICE-Convention 2006

Solche Spiele in Form taktischer First-Person-Shooter eignen sich natürlich nicht nur für die Vermittlung ideologischer Hintergründe, sondern auch für praktisches Wissen im Bereich ‚Rules of Engagement‘, Waffeneinsatz, Erste Hilfe und Taktik:

„When we cover houses, you got your guys coming in behind you covering your flank, (…) When you take over a house and you’re playing SOCOM, you kind of get used to it when you get there.“
Lance Cpl. Patrick Hopper, 23, about „SOCOM 2: US Navy Seals“ (Link zum Associated Press Artikel)

Interessant ist aber gerade auch die ‚Verwendung‘ von Spielen als Faktor der Resilienz, spricht: Stabilisierung angesichts von Lebensumständen, die üblicherweise eine schwere Belastung für die einzelne Psyche oder die Kultur darstellen:

„We sort of zone out and know we can sit here and kill each other, and no one gets hurt,“ McKinney says later. „Everyone comes out alive.“
– Spec. Robert McKinney über das Computerspiel „Halo“ während der Operation Iraqi Freedom (Dezember 2004). (Link zum Artikel der Washington Post)

Dass nicht nur das Individuum, sondern gerade auch eine ganze Gesellschaft (symbolisch) mit dem spielt, was als alltägliche Herausforderung für Krisensituationen sorgt, findet sich auch bei Udo Thiedecke. Spiele spiegeln die Lebensumstände wieder, denen Angehörige bestimmter Kulturen oder Gruppierungen unterworfen sind. Für eine stratifizierte, feudale Gesellschaft würde dies z.B. bedeuten:

„Die Angehörigen der Unterschicht hätten zweifellos auch kaum Verwendung für Schach gehabt, ihre Probleme sind weniger der Kampf um Rangpositionen oder das Führen von Kriegen, als vielmehr das nackte Überleben, das von mannigfaltigen Zufällen oder der Willkür der Herrschenden abhängt. Folgerichtig spielt man in der Unterschicht, etwa der mittelalterlichen Ständegesellschaft, Geschicklichkeits- oder Glücksspiele, von denen wir auch heute noch z.B. das Kegeln oder die Kartenspiele kennen. (…)
Für den Adel eröffnet das Schach jedoch einen wichtigen gesellschaftlichen Exklusionsbereich. Hier kann der Kampf um Ränge erprobt, evt. in Partien unter Konkurrenten sogar simuliert werden, ohne dass dies politische oder territoriale Folgen nach sich zieht. (…) Neben Diplomatie ist also geschicktes Taktieren in der Kriegführung gefragt sowie die Möglichkeit, im Spiel die Konsequenzen von Angriff und Verteidigung ‚durchzuspielen’. Schach erweist sich so als ein gesellschaftliches Ordnungsspiel, das die Ordnung spielerisch in Frage stellt, als kontrollierte Normalitätsverschiebung in der schichtspezifischen Verwendung aber immer auch bestätigt.“
– Udo Thiedecke (2010), „Spiel-Räume: Kleine Soziologie gesellschaftlicher Exklusionsbereiche“ in Caja Thimm (Hrsg.) „Das Spiel: Muster und Metapher der Mediengesellschaft.“, VS-Verlag, S.24

Ein ähnlich konkretes Beispiel, das sowohl den Bereichen Bewältigung und Resilienz als auch Sozialisation zugeordnet werden könnte, findet sich bei Erich Renner über ein Kinderspiel zur Zeit der chinesischen Kulturrevolution:

„Daß Kinder und Jugendliche die Enttabuisierung aller bisherigen gesellschaftlichen Werte wahrnehmen, sich in ihrem Verhalten so darauf einstellen, daß sie die allgemeinen Tendenzen im negativen Sinne noch übertrumpfen wollen, illustriert ein Erinnerungsstück aus der Autobiographie der Chinesin Chen Danyan während der Kulturrevolution. (…) „Es gab in jenen Jahren einen schrecklichen Zeitvertreib: Die Jungen spielten ,Katzen morden‘. Wenn nachmittags kein Unterricht war, strolchten sie bandenweise durch Straßen und Gassen und machten Jagd auf streunende Katzen.
[Anm. Tan: Es folgt eine extrem grausame Beschreibung der verschiedenen Tötungsarten] (…)
„Am meisten erschüttert jedoch die Verstrickung der Kinder in dieses Spinnennetz von Repressalien und Anpassung: Sie gebärden sich wie Abziehbilder der Erwachsenen“, formuliert eine Rezensentin dieser Autobiographie. Die Details dieser Situation sprechen eher dafür, daß die Kinder die Erwachsenen hier nicht nur nachahmen, sondern an Grausamkeit noch zu übertreffen suchen. Man muß mit Erschrecken wahrnehmen, wie scheinbar spielerische Handlungen in monströse Wirklichkeit umschlagen. Das grausame Spiel wird zum Spiegelbild der gesellschaftlichen Zustände.“
– In Erich Renner (2001), „Andere Völker, andere Erziehung. Eine pädagogische Weltreise“, Peter Hammer Verlag, S.276-279

Bei Rolf Oerter, der die Dokumente von Georg Eisen (1988) zu Spielen von Kindern in Ghettos und Konzentrationslagern heranzieht, findet sich ein funktional ähnliches Spiel:

„Eine häufig beobachtete Form der Bewältigung bestand für Kinder in den Ghettos und den KZs darin, die Realität einfach nach zu spielen. Die Wiederholung dessen, was sie tatgtäglich erlebten und nicht verarbeiten konnten, war ein erster und vordringlicher Weg, sich mit den Ereignissen auseinander zu setzen. (…)
Im Ghetto von Wilna war eines der häufigsten Spiele „Durchs Tor gehen.“ Das Spiel wiederholte in realistischer Weise das Geschehen am Eingangstor zum Ghetto. Zwei Hauptfiguren wurden ausgewählt: Levas, der jüdische Torwächter und Franz Murer, einer der übelsten Gestapo-Männer. Der Rest der Kinder spielte jüdische Arbeiter, die versuchten, Lebensmittel in das Ghetto zu schmuggeln, und Wächter, die Schmuggelware zu finden hatten. Während die Torposten die zurückkehrenden Arbeiter „durchsuchten“ erschien Murer, der die Posten zur größeren Brutalität antrieb und gleichzeitig eine Panik unter den Arbeitern auslöste. Sie versuchten verzweifelt, kleine Lebensminelpakete beiseite zu schaffen, aber Murer stellte einige, die beiseite treten mußten, und ließ sie auspeitschen.“
– Rolf Oerter (1993) „Psychologie des Spiels. Ein Handlungstheoretischer Ansatz.“, Beltz, S.250

Bestimmte Spiele und Spielgenres waren und sind der Versuch von Individuuen und Kulturen – so die These – mit Umständen umzugehen, die außerhalb ihrer Einflussmöglichkeiten liegen, aber krisenhafte bis zerstörerische Situationen auslösen können. Dabei geht es entweder in Form kultureller Sozialisation bzw. individueller Adaption um das Lernen des Umgangs mit diesen Situationen; oder im Sinne der Resilienz bzw. der Realitätsbewältigung um den Erhalt von Kultur und Psyche angesichts von empfundener Machtlosigkeit bzw. unbeeinflussbarer Umstände.

Insofern wären dominante Spielprinzipien einer Kultur prinzipiell ein Indikator für ihre Unstimmigkeiten und Verwerfungen, für Verhältnisse von gesellschaftlicher Macht und Ohnmacht etc.; es sind dadurch in gewisser Weise Lernspiele, als dass sie den Umgang damit lehren – ob als Bemächtigung oder als Bewältigung.
Ein Lernspiel zweiter Ordnung würde nun versuchen, auf die Festschreibungen zu Gunsten des Potenziellen – dem kulturell Defizitären – einzugehen und die Spiele selbst zum Gegenstand von Spiel zu gestalten.